Der BMI – warum ein Zahlensystem über unsere Körper bestimmt (und wem es nützt)
Von der Arztpraxis bis zum Kreißsaal – Körper werden gemessen, gewogen, bewertet. Ich erinnere mich an Freundinnen, deren Babys „zu klein“ oder „zu groß“ seien. An Gespräche, in denen Gewicht mit Gesundheit gleichgesetzt wurde. Doch woher kommt diese Fixierung? Und wem dient sie wirklich?
10/15/20253 min read
Einleitung: Zwischen Körpernorm und Körpervertrauen
Ich bin mit dem Gedanken aufgewachsen, dass es wichtig ist, was wir wiegen.
Dass ein bestimmter Wert – eine Zahl – über unsere Gesundheit, unsere Attraktivität, manchmal sogar über unseren Selbstwert entscheidet.
Ob es eine Freundin ist, deren ungeborenes Kind „unter dem Soll“ liegt und plötzlich als Risiko gilt. Oder eine andere, deren zweijähriges Kind beim Kinderarzt mit skeptischem Blick auf die BMI-Tabelle gemustert wird.
Immer wieder sehe ich, wie Körper in Zahlen gepresst werden, als ließe sich daraus Wahrheit ableiten. Doch diese „Wahrheiten“ sind menschengemacht – und sie haben eine Geschichte, die wir kennen sollten.
Der Ursprung des BMI: Der Traum vom „durchschnittlichen Menschen“
Der Body Mass Index wurde im 19. Jahrhundert von dem belgischen Mathematiker Adolphe Quetelet entwickelt.
Sein Ziel war nicht, Gesundheit zu messen, sondern den „durchschnittlichen Menschen“ statistisch zu beschreiben – als Teil eines Projekts, das eng mit der Idee von Normalität und Abweichung verbunden war.
Quetelet’s „Mensch“ war: weiß, männlich, europäisch – ein Körper, der als Maßstab für die gesamte Menschheit dienen sollte.
Körper, die davon abwichen – Frauen, Schwarze Menschen, Arme, Kranke – galten als „unvollständig“ oder „untypisch“. Das, was als wissenschaftlich neutral erschien, war in Wahrheit tief durchzogen von rassistischen, sexistischen und klassistischen Vorstellungen.
Über 100 Jahre später machte der Physiologe Ancel Keys (1970er) den BMI populär – diesmal als Maß für Körperfett und Gesundheit.
Doch auch seine Forschung basierte fast ausschließlich auf weißen, männlichen Probanden.
Trotzdem wurde der BMI zum globalen Standard erhoben: Versicherungen, Schulen, Ärzt*innen, Kliniken – alle übernahmen ihn, als wäre er universell gültig.
Von Statistik zu Moral: Wie Körper normiert werden
Heute wird der BMI verwendet, um zu entscheiden, wer „gesund“ ist, wer Unterstützung „braucht“, wer „zu viel“ oder „zu wenig“ hat.
Dabei ignoriert er völlig die Vielfalt menschlicher Körper, Stoffwechsel, Hormonlagen, Kulturen, Lebensrealitäten.
Die Autorin Emilia Roig beschreibt das in Why We Matter eindrücklich:
„Körper werden anhand dieser Berechnung als normal/abnormal, gesund/ungesund, schön/hässlich und diszipliniert/undiszipliniert klassifiziert. [...] Durch die Verwendung des BMI werden Menschen dazu gebracht, an ihrer eigenen Wahrnehmung zu zweifeln – auch ›medizinisches Gaslighting‹ genannt.“
Der BMI ist also nicht nur ein Maß – er ist ein Instrument der Disziplinierung.
Er formt, was als „richtig“ gilt, und schließt diejenigen aus, deren Körper sich außerhalb dieser engen Grenzen bewegen.
Er stützt eine Kultur, die Fatphobia als Gesundheitsdiskurs tarnt und in Wahrheit Körperhierarchien aufrechterhält.
Fatphobia, Kontrolle und koloniale Kontinuitäten
Die Fixierung auf „normale“ Körperformen ist kein Zufall. Sie steht in einer langen Tradition westlicher Körperpolitik – in der weiße, schlanke, disziplinierte Körper als zivilisiert und gesund galten, während andere Körper als „wild“, „faul“ oder „krank“ markiert wurden.
Diese Narrative leben fort – in Diätkulturen, in der Wellness-Industrie, in medizinischen Routinen.
Selbst im Kontext von Schwangerschaft und Geburt zeigt sich das:
Wenn Ärzt*innen den Bauchumfang oder das geschätzte Geburtsgewicht messen und daraus Risiken ableiten, wird Körperwissen wieder von außen reguliert.
Und oft folgen Eingriffe – Einleitungen, Kaiserschnitte, Überwachung – die nicht aus Körpervertrauen, sondern aus Normabweichung entstehen.
Medizinisches Gaslighting und das Misstrauen gegenüber Körpern
Viele Menschen – vor allem FLINTA*, dicke Menschen, BIPoC und Menschen mit Behinderungen – erleben, dass ihre Körper medizinisch nicht ernst genommen werden.
Wenn Beschwerden reflexhaft mit Gewicht erklärt werden („nehmen Sie ab, dann wird das schon“), wird der eigentliche Schmerz übersehen.
Das nennt Emilia Roig in "Why we matter" „medizinisches Gaslighting“ – das ständige Infragestellen der eigenen Körperwahrnehmung durch Expert*innen, die glauben, besser zu wissen, was gut für uns ist.
Es ist eine Form struktureller Gewalt, die uns lehrt, unserem Körper zu misstrauen, statt ihn zu bewohnen.
Zurück zum Körpervertrauen
Was wäre, wenn wir Gesundheit nicht länger als Zahl, sondern als Beziehung verstehen?
Wenn wir lernen, auf unseren Körper zu hören – seine Müdigkeit, seinen Hunger, seine Lust, seine Grenzen – ohne ihn ständig messen zu müssen?
Gesundheit kann nicht normiert werden.
Sie ist zyklisch, subjektiv, lebendig – und untrennbar mit sozialer Gerechtigkeit verbunden.
Ich glaube, dass Heilung dort beginnt, wo wir Kontrolle durch Vertrauen ersetzen.
Wo wir aufhören, Körper zu vergleichen, und anfangen, sie zu bewohnen – in ihrer Vielfalt, in ihrem Ausdruck, in ihrer Geschichte.
Schluss: Jenseits der Zahlen
Der BMI ist nur eine Zahl – aber er steht für ein ganzes System:
Eines, das Macht über Körper ausübt, statt sie in ihre eigene Kraft zurückzuführen.
Wenn wir ihn kritisch hinterfragen, öffnen wir Räume für neue Formen von Fürsorge – für Selfcare, die nicht normiert, sondern befreit.
Für Gesundheit, die sich nicht messen lässt, sondern erlebt werden will.
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*juicy = Der Begriff kommt aus afro-diasporischen Communities und steht für Sinnlichkeit und Fülle – eine Einladung, Körperfreude jenseits von Leistungslogik zu leben.
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